Die Milchbank

 

Milchbänke waren typische und unverzichtbare Einrichtungen an verschiedenen Plätzen im Dorf.

An der Dorfstraße stand in der Mitte des „Platzes“ am Gutshaus die "Bank" - eine von sieben Milchbänken im Dorf.

Auf diesen stellten die Bauern in den frühen Morgenstunden ihre gekennzeichneten Milchkannen ab, die dann der Milchkutscher in die Molkerei der nahen Stadt fuhr.

Er brachte je nach Bestellung und Zuteilung die leeren Kannen oder die mit Magermilch oder Molke gefüllten Kannen wieder zurück.

Auf unserer "Bank" auf dem "Platz" stand auch oft der Kasten mit den Milchproben, die mein Vater als Milchkontrolleur – offizielle Berufsbezeichnung Milchleistungsprüfer - zum Labor in der Molkerei mitgab.

Anfangs war das "Labor" in einer Kammer des "kleinen Hauses", später war das nicht mehr zulässig. Sicher waren die Bedingungen, sowohl die hygienischen als auch die arbeitsschutz-technischen mehr als fraglich und gefährlich - wurde doch der Milchfettgehalt durch Ausfällen mit konzentrierte Schwefelsäure bestimmt, die immer in Griffweite von uns Kindern stand und die nicht wenige Löcher in die Arbeitssachen des Vaters "brannte". Sicher waren die Messergebnisse auch zweifelhaft, arbeitete doch der Vater mit einer Handzentrifuge, die sich mehr zum Spielzeug als zum Laborgerät eignete.

Die Milchbänke waren ein wichtiges Barometer im Dorf. Zeigte doch die Anzahl der Kannen an, welcher Bauer, wie viel Milch ablieferte.

Man konnte früh auf den Weg zur Schule oder zum Schulbus feststellen, ob Kühe "trocken standen" oder in der "Frischmelke" waren.

Die Bank war aber auch Spielplatz für die Kleinen - man konnte Ball fangen, man konnte "Schule" spielen, man konnte auf den einzelnen Leisten balancieren, man konnte einfach hoch oder runter springen. Es lag nur an der eigenen Phantasie und die hatten wir im Überfluß in dieser Zeit der Genügsamkeit.

Die Bank war aber auch Scharfrichter darüber, ob man sich zu den "Kleinen" oder "Großen" zählen konnte.

Wer es schaffte von der Straßenseite die Bank im Hocksprung zu erreichen, zählte zu den "Großen", solange man das nicht schaffte, war man eben noch ein "Kleiner".

Da der „ Platz“ um die Bordsteinhöhe über dem Straßenniveau lag, musste man lange von der Platzseite aus üben, bis man die Mutprobe und den Auswahlwettbewerb zwischen "Kleinen" und "Großen" angehen konnte.

Die Bank war dann nicht mehr nur Spielplatz, sondern auch Treffpunkt für die "Großen" zur Demonstration von männlichen Attributen, wie ein neues Fahrrad, eine neue Jacke oder Hose, oder zur „Schaustellung“ des ersten Flaums an der Oberlippe.

Aber sie waren auch "Laufsteg" für die Mädchen mit ihren ersten weiblichen Attributen, wie Bubikopf oder erste zarte Brustspitzen unter der Bluse oder engem Pullover. Sie waren auch der Ort, wo man das Gespräch, den Plausch miteinander suchte auch ohne Gefahr zu laufen, gleich als Paar identifiziert zu werden, da man ja unter allgemeiner Beobachtung in aller Öffentlichkeit stand.

Die Bank war manchmal auch ein "Verkehrshindernis", da sie sehr nahe an der Bordsteinkante stand, um den Bauern und dem Milchkutscher das Hantieren mit den schweren Kannen so leicht wie möglich zu machen.

 

Die Tochter der alten Gutsherrin, die "junge Merry" genannt, die eigentlich Margarethe von Wentworth-Paul hieß, im Unterschied zur "alten Merry", die eigentlich Marie von Wentworth-Paul hieß, aber keiner im Dorf sprach diese langen und fast unaussprechlichen Namen jemals vollständig aus, wollte trotz ihrer relativen Armut zeigen, dass sie etwas Besonderes war. Wenn schon verarmt, dann aber doch stolzer Adel, der auch mit dem Fortschritt mithalten kann.

Die "junge Merry" war zwischenzeitlich von der Gelegenheitsausbilderin an der Volksschule für "Näh-, Stick- und Strickkunst" als Lehrerin für Heimarbeitskunde, so die offizielle Bezeichnung nach der demokratischen Schulreform, an der Zentralschule und anderen Schulen des Kreises zugelassen.

Für ihre Tätigkeit an den verschiedenen Schulen benötigte sie ein fahrbares Gefährt, denn das alte Damenfahrrad war nicht mehr angemessen.

Die Fahrschule hatte sie in besseren Zeiten vor dem Krieg absolviert, aber Fahrpraxis hatte sie offenbar aufgrund der nachfolgenden Ereignisse keine erwerben können.

Man munkelte im Dorf: "Merry hat ihren Adelstitel in Westberlin verkauft und hat sich dafür ein Auto zugelegt - einen zweisitzigen offenen Sportwagen."

Die Vorbereitungen auf diese gravierende Veränderung spürten alle Bewohner des Gutshauses und des "Platzes".

Aus der Wand des "großen Hauses" zur Straßenseite wurde ein großer Durchbruch zum Keller heraus gebrochen und mit den Bruchsteinen und zusätzlichen Backsteinen im Keller eine schräg bis zur Straßenhöhe ansteigende Rampe errichtet, die als Standplatz bzw. als Garage für das neue Gefährt dienen sollte. Die Öffnung wurde mit einem ansprechenden Holztor mit Fischgrätenmuster verschlossen - schließlich war es ja das Gutshaus. Man gönnt sich ja sonst nichts !

Von der Rampe führten noch zwei Backsteinstufen bis zur Kellerebene herab, so dass man durch den langen Kellergang in den Gutshof und von dort über die Außentreppe in die Wohnung der Besitzerinnen gelangen konnte.

Nun kam der Sportwagen, besser der "Spottwagen" a' la Eigenbau der Nachkriegsjahre. Es war auch die Zeit als die ersten "Lambretta's" und Gogo- Mobile aufkamen.

Merry's Wagen hatte eine Karosserie aus Zinkblech und sah wie eine auf den Kopf gestellte Badewanne aus.

Es war ein echtes Unikat. Von vorn sah es wie ein echter Sportwagen aus, denn unter dem langgestreckten Kühler waren tatsächlich zwei Räder, die über Dreiecklenker richtig über ein Lenkrad gesteuert werden konnten. Die schmale Leder besetzte Sitzbank und das Lenkrad , sowie die halb hohe, über den keilförmigen Frontteil stehende Plexiglas - Windschutzscheibe machten schon etwas her.

Hinter der Sitzbank lag ein Motorradmotor - NSU 200, Baujahr 1938, glaube ich, der über eine Kette das Hinterrad antrieb. Der hintere Teil war eigentlich ein abgeschnittenes Motorrad, welches mit einem Badewannenteil als Autoheck verkleidet war.

Wir wurden nur Augenzeuge weniger Ausfahrten, zu denen die "junge Merry" auch mit dem einer Dame angemessenen "Outfit" - braune Motorrad- Ledermütze und leicht getönte Motorrad- Brille antrat.

Da das "Garagenpodest" im Keller, auch der niedrigen Höhe wegen als eine schiefe Ebene zur Straßenausfahrt hin ansteigend angelegt war, musste mit Schwung angefahren werden, denn heraus schieben konnte die Dame das Fahrzeug nicht.

Hinzu kam, dass aus Kosten- Material- oder Genehmigungsgründen an der Befestigung der Torausfahrt gespart wurde, die hier über eine Rasenfläche zwischen Straße und dem zurückgesetztem Gutshaus führte. Eine befestigte Einfahrt für das Gutsgehöft gab es nur an der Tür zwischen "kleinem Haus" und Gutgarten, die war aber für eine Ein- oder Ausfahrt eines Automobils nicht geeignet.

 

Die "junge Merry" fuhr wie immer mit Schwung und lautem Geknatter los. Aus einem der Fenster im Obergeschoss beobachtete die "alte Merry" die Ausfahrt der Tochter.

Das schwungvoll angetrieben Hinterrad brach auf der noch feuchten Rasenfläche der "Garagenausfahrt" aus. Die "junge Merry" konnte trotz ehemals gelernter Gegenlenkversuche das Gefährt weder in die Spur noch zum Halten bringen und fuhr mit Wucht gegen die Bank, so dass ein Stück der ersten Planke abplatzte.

Die "alte und junge Merry" schrieen auf , das Gefährt stürzte auf die linke Seite, die "junge Merry" kroch verdreckt und Prellungen aufweisend aus dem Sportwagen hervor, der im Frontteil recht lädiert auf der Seite lag. Mit den vereinten Kräften der herbeieilenden Bauern wurde der Wagen wieder in die "Garage" zurückgebracht.

Dort stand er eine geraume Zeit bis ein neuer Liebhaber den "Spottwagen" für einen Spottpreis erwarb.

Die "junge Merry" fuhr von nun an wieder mit dem Fahrrad oder dem Bus zu ihren Unterrichtsorten.

 

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